Geschichte

Historische Meilensteine – Inhaltsverzeichnis

1848 – 1970: Ein Stift für „alternde Jungfern“

Die Gründung des ersten Schwesternhauses

Das erste Schwesternhaus
Das erste Schwesternhaus beim Aegidientorplatz

„Welch ein Trost für eine brave Tochter des Mittelstandes, die ihre Eltern mit kindlicher Zärtlichkeit bis zum Tode pflegte, die eben darum oder wegen körperlicher Schwäche oder aus anderen Ursachen zu einer Verheirathung nicht schreiten konnte oder wollte, die ein halbes oder ganzes Menschenalter hindurch in fremden Häusern redlich diente und eben wegen ihrer Redlichkeit und Treue wenig oder nichts zu ersparen vermochte, welch ein Trost für sie, wenn sie nun ihr eigenes Stübchen mit einer gesunden Kammer fände, dort ihre Tage zu beschließen.“

Mit diesen Worten erläuterte Hermann Wilhelm Bödeker, Pastor an der Marktkirche in Hannover, im November 1845 erstmals die von ihm (auf Anregung des „Canzleiexpedienten“ A. F. Oehlkers) entwickelte Idee zur Gründung eines „Asyls für unbemittelte alternde Jungfrauen des Mittelstandes“: Für alte Dienstmägde und die Töchter des Adels und der höheren Staatsdiener sei gesorgt, nur die unverheiratet gebliebenen Töchter des Mittelstandes seien im Alter häufig unversorgt.

Bödeker schlug deshalb vor, auf einem von der Stadt geschenkten oder billig erworbenen Grundstück vor den Toren der Stadt ein Haus mit 20-40 Wohungen – bestehend aus Stube, Kammer und Küche – zu bauen. Für regelmäßige Morgenandachten sollte ein gemeinsamer Raum sowie „zur Promenade“ ein gemeinsamer Garten geschaffen werden.

Ein „Genie im Wohlthun“

Boedecker
Bödeker mit seiner Frau

Hermann Wilhelm Bödeker (1799-1875), zeitgenössisch als „Genie im Wohlthun“ charakterisiert, gehörte zu den bedeutendsten hannoverschen Geistlichen des 19. Jahrhunderts. Er begründete 5 Vereine, darunter einen Tierschutzverein, sowie eine „Volksschullehrerwitwenkasse“, eine „Säuglingsbewahranstalt“, ein Rettungshaus „für verdorbene Knaben“, die Marienstiftung „zur Ausbildung mittelloser weiblicher Dienstboten“ und das Sabbathhaus „für treue alte Dienerinnen“. Bödekers soziale Tätigkeit zielte dabei auf bürgerliche Mildtätigkeit, auf Abmilderung, nicht aber auf Beseitigung sozialer Missstände. Den Höhepunkt seines Engagements bildete das „Damenstift Schwesternhaus“. Ihm widmete er den größten Aufwand an Zeit und Kraft.

Aktien und Bittbesuche

Schwesternhaus-Aktie
Aktienpapier des ersten Schwesternhauses

Als 1847 der hannoversche König den Abriss des städtischen Lyceums am Friederikenplatz verfügte, „welches ihn dort sehr genirte“, nahm Bödekers Idee zur Gründung eines „Asyls für unbemittelte alternde Jungfrauen aus dem Mittelstande“ konkrete Formen an. Er kaufte das Lyceum „auf Abriß“, erwarb von der Stadt  einen Bauplatz südlich des Aegidientores (heute: Meterstr. 27 in der Nähe des Aegidientorplatzes) und ließ dort nach den Plänen des hannoverschen Zimmermeisters August Holekamp das erste Schwesternhaus errichten. Die Finanzierung des Baus bereitete Pastor Bödeker allerdings erhebliche Schwierigkeiten und gelang nur durch über 600 Bittbesuche bei privaten Kreditgeber*innen, den Verkauf von Wohnrechten, Aktien und einen Zuschlag durch die Stadt Hannover. Zur Schuldentilgung sollten die Mieteinnahmen dienen.

Einzugsberechtigung für Witwen und Jungfern

Der Name „Schwesternhaus“ sollte für die zueinander einzunehmende Haltung der Bewohnerinnen stehen: „Schwesterliche Liebe sollte darin herrschen, schwesterliche Duldung darin regieren, schwesterliche Eintracht und Schonung das Regiment haben, schwesterliche Freundlichkeit und Theilnahme das Scepter führen“, so beschrieb Bödeker anläßlich der Einweihung des Stiftsgebäudes am 5. Dezember 1848 seine Erwartungen an den „Geist unter den Bewohnerinnen dieses Hauses“.
Abweichend von der ursprünglichen Idee konnten in das „Asyl für hülfsbedürftige Frauenzimmer aus dem gebildeten Stande“ nicht nur unverheiratete Frauen, sondern auch Witwen einziehen. Die Aufnahme erfolgte nach einer einmaligen Zahlung von 300 Thalern oder gegen eine jährliche Miete von 24 Thalern. Voraussetzungen waren ein unbescholtener Ruf und ein Mindestalter von 25 Jahren. Außerdem durften die Bewerberinnen nicht an Krankheiten leiden, die ihre Mitbewohnerinnen möglicherweise belästigen konnten, z.B. Epilepsie, „Krebsschaden im Gesichte, Gemüthskrankheiten“ usw.

Ein geregeltes Leben

Garten
Die ersten Schwestern bei der Gartenarbeit

Die Verwaltung des Stiftsvermögens geschah durch einen Verwaltungsrat unter Vorsitz Bödekers, in dem die 37 Stiftsdamen durch 2 aus ihrer Mitte gewählte Vertreterinnen, Priorin und Substitutin, vertreten waren. Diese sollten im Haus über Ordnung, Sitte und Anstand wachen. Eingekaufte Stiftsdamen konnten unter Rückzahlung der Einkaufssumme von 300 Thalern nur wieder ausziehen, wenn sie heirateten. Zum Haus gehörte auch ein großer Garten, in dem für jede Stiftdame eine Parzelle zum Gemüseanbau abgeteilt war. Dazu hatte der hannoversche König für jede Bewohnerin zwei Obstbäume gestiftet. Außerdem wurden von den Stiftsdamen in Zusammenarbeit mit der Marienstiftung Dienstmädchen ausgebildet.

Eine Hausordnung regelte das Leben im Schwesternhaus bis ins Detail: Die Haustüren waren zwischen 22 Uhr und 5 Uhr verschlossen. Wer später nach Hause kam, musste dies vorher bei der Wärterin des Erdgeschosses anmelden. Zweimal wöchentlich fand morgens im Saal des Schwesternhauses eine Betstunde statt, „woran die Beteiligung sämtlicher Anstaltspersonen dringendst gewünscht wird“. Neben der Priorin und der Substitutin gab es unter den Stiftsdamen eine Oeconomin, die über die Brennstoffvorräte des Hauses wachte, eine Bibliothekarin, die die Stiftsbibliothek verwaltete, sowie auf jeder der 3 Etagen eine Inspektorin, die die Vorgänge auf dem jeweiligen Flur überwachte. Außerdem waren ein Hofmeister, der Hof und Garten in Schuss hielt, und drei Wärterinnen als Putzfrauen angestellt. Zu vermeiden war alles, „was die Ruhe, Sicherheit, Ehre und den Frieden des Hauses stört“.  Das Auftreten von Wanzen in den Möbeln einer Bewohnerin zog die sofortige „Entfernung“ der entsprechenden Stiftdame nach sich. Es war verboten, Betten oder Wäsche aus dem Fenster zu hängen, etwas aus dem Fenster zu schütten, in den Wohnungen Holz oder Torf zu zerkleinern, mit offenem Licht den Boden zu betreten, im Garten Wäsche zu bleichen oder zu trocknen und Messer „auf Treppen und Schwellen zu wetzen“.

Umzug auf die Bult

Richtfest
Bau des neuen Stiftsgebäudes, dem heutigen Schwesternhaus

Am 10. November 1897 wurde der Neubau des „Damenstifts Schwesternhaus“ in der Schwesternhausstraße feierlich eingeweiht. Damit zog die Schwesternhausstiftung von dem kaum fünfzig Jahre alten Gebäude in der Meterstraße in ein neues, vor den Toren der Stadt erbautes Schwesternhaus um.

Warum sich der Verwaltungsrat der Schwesternhausstiftung im Oktober 1894 für einen Neubau des Stiftsgebäudes entschied, läßt sich nur vermuten. Obwohl das alte Schwesternhaus in der Meterstraße noch keine 50 Jahre alt war, war es wahrscheinlich baufällig, denn nach dem Umzug in das neue Gebäude wurde das alte Schwesternhaus verkauft und bald darauf abgerissen. Vermutlich war aber auch die Nachfrage nach den Stiftswohnungen groß. Die Schwesternhausstiftung hatte inzwischen ihre Schulden vom ersten Bau abgetragen, sodass man sich auch deswegen zu einem Neubau entschied. Der 1896 für 100.000 Reichsmark erworbene Bauplatz auf der „Großen Bult“ befand sich in einem Neubaugebiet. 1893-1895 waren hier in direkter Nachbarschaft das Rats- und von-Sodenkloster und das Heiligen-Geist-Stift neu erbaut worden. Seit 1895 wurde auf dem Gelände zwischen den beiden alten Dammstraßen nach Misburg und zum Bischofshol auch eine neue Tierärztliche Hochschule gebaut.

Neue Nachbarschaft

Postkartenansicht
Postkartenansicht von Nordosten auf das damals noch freistehende Schwesternhaus mit dem Heiligen-Geist-Stift im Hintergrund

Die Wahl des Bauplatzes in der Schwesternhausstraße stieß sicherlich nicht nur auf Zustimmung, denn das Grundstück war relativ weit von der eigentlichen Stadt entfernt und es war mit Geruchs- und Lärmbelästigung durch den Schlachthof und durch die Tierärztliche Hochschule zu rechnen. Der Entwurf für den Bau des Hauses stammte vom hannoverschen Architekten Emil Lorenz und dem Berliner Architekten Christoph Hehl, welcher Architekt zahlreicher öffentlicher Bauten in Hannover war (z.B. Rathaus Linden, Clementinen-Krankenhaus und mehrere Kirchen).

Die Ausstattung

Südanischt

Der Neubau enthielt 69 Einzelwohungen und 6 Doppelwohnungen, verteilt auf 4 Stockwerke. Der Kaufpreis für eine einfache Wohnung lag je nach Stockwerk zwischen 1500 und 2000 Mark. Sofern keine Käuferinnen zu finden waren, konnten die Wohnungen auch für 150-200 Mark gemietet werden. Zu jeder Wohnung gehörte außerdem ein Kellerraum und ein „Holzverschlag“ auf dem Boden. Gemeinschaftlich genutzt wurden der „Saal“ (die heutige Kapelle), die Waschküche, die „Bibliothek“ (die heutige Teestube) und die „Promenade im Garten“. Für die Bibliothek stifteten der „Hofbuchhändler H. W. Hahn und seine Collegen in Stadt und Land“ zwei große Bücherschränke. In der Wohnung 1A (die heutige Kinderkoppel) – mit direktem Zugang zum darunterliegenden Keller – befand sich die Wohnung des „Hofmeisters“. Die heutigen Notzimmer dienten teilweise als Wohnraum für die als Dienstpersonal angestellten 6 „Wärterinnen“.

Südansicht
Das neue Schwesternhaus mit seinem Park

Im Vergleich zu den im gleichen Zeitraum neu errichteten Gebäuden des Rats- und von-Soden-Klosters und des Heiligen-Geist-Stiftes war das Schwesternhaus ein Luxusquartier. Die Stiftsdamen im Schwesternhaus verfügten über eine abgeschlossene Wohnung mit 2 Zimmern und Küche. Im Rats- und von-Soden-Kloster befanden sich dagegen nur zellenartige Wohnkammern von maximal 8 qm Größe, und die Bewohner des Heiligen-Geist-Stiftes waren in großen Sälen untergebracht, die mit 2m hohen Wänden in 6qm große Schlafkammern unterteilt waren. Eine Eingabe der Bewohner des Heiligen-Geist-Stiftes, statt solcher Schlafkammern in Sälen geschlossene Wohnungen zu bauen, wurde abgelehnt mit dem Hinweis, man wolle kein „Damenstift“ bauen, sondern nur ein neues „Hospital“. Zwischen Rats- und von-Soden-Kloster und dem Heiligen-Geist-Stift (als Einrichtungen der städtischen Armenpflege) und dem Damenstift Schwesternhaus bestand also ein erhebliches soziales Gefälle.

Geringe Nachfrage

Ansicht

Die Nachfrage nach einer Wohnung im Schwesternhaus war dennoch zunächst offenbar geringer als erwartet. In dem seit Anfang September 1897 bezugsfertigen Gebäude waren zwei Monate später erst gut die Hälfte der Wohnplätze belegt. Da es nicht genügend geeignete Bewerberinnen aus der Stadt Hannover gab, entschied sich der Verwaltungsrat zur Aufnahme auch von auswärtigen Damen. Bewerbungsberechtigt waren „hülfsbedürftige Damen aus dem gebildeten Stande … gleichviel , ob sie unverheiratet oder Wittwen sind“. Aufnahmebedingungen waren: evangelisches Bekenntnis, unbescholtener Ruf und Mindestalter 25 Jahre. Obwohl sowohl ledige als auch verwitwete Damen aufgenommen werden konnten, waren Anfang der 1890er Jahre über 95% der Bewohnerinnen unverheiratet.

Der zweite Weltkrieg

Ansicht

Im Vergleich zu 1897 hatte sich das Leben im Schwesternhaus bis zum Ende der 30er Jahre erheblich verändert. Während der Neubau 1897 mehr oder weniger auf der grünen Wiese errichtet worden war, fand in den 20er und 30er Jahren eine weitere Bebauung der Gegend um das Schwesternhaus statt – mit einem Villenviertel an der Heiligen-Geist-Straße, Erweiterungsbauten der Tierärztlichen Hochschule und dem Generalkommando XI der Wehrmacht (dem heutigen Wehrbereichskommando). Gleichzeitig hielt moderner Wohnkomfort ins Haus Einzug: 1925 wurde das Schwesternhaus an das elektrische Leitungsnetz angeschlossen und 1931 die Straße vorm Haus gepflastert. 1942 war die Nachfrage nach Wohnungen so groß, dass der Verwaltungsrat beschloss, dass Bewerberinnen nur noch bis zu einem Höchstalter von 60 Jahren aufgenommen werden sollten, da das Haus für Pflegebedürftige nicht geeignet war. Dabei lag das Durchschnittsalter der derzeitigen Bewohnerinnen bei 72 Jahren.

Die Zerstörung…

Nachdem bei einem Bombenangrif am 10./11. Februar 1941 bereits erste Schäden am Schwesternhaus aufgetreten waren, wurde beim schwersten Luftangriff auf Hannover in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 1943 auch das Schwesternhaus von mehren Brand- und Sprengbomben getroffen. Haupttrakt und Südflügel brannten weitgehend aus. Die Wohnungen 53, 55, 72 und 73 in den oberen Stockwerken des Südflügels wurden durch Sprengbomben zerstört. Der Nordflügel blieb durch den Einsatz einiger Stiftsdamen und mit Hilfe militärischer Einheiten weitgehend vom Feuer verschont. Durch die Druckwelle der Sprengbomben wurden jedoch im gesamten Haus Fenster und Türen beschädigt, ebenso das Dach des Nordflügels. Anschließend waren nur noch 19 Wohnungen im Nordflügel bewohnbar, die restlichen 56 Wohnungen vollständig oder teilweise zerstört. Der Verwaltungsrat der Stiftung kommentierte die Ereignisse im Slogan der Zeit: „Der totale Krieg verlangt gebieterisch die Einschränkung aller Bedürfnisse. Zur Sicherung des Fortbestehens des Schwesternhauses muss unter Anlegung eines strengen Maßstabes die Möglichkeit von Einsparungen geprüft werden.“

Das zerstörte Hannover nach dem Luftangriff 1943

…und der Wiederaufbau

Hainbuchenzirkel
Blick auf den noch jungen Heinbuchenzirkel um den Gartenteich. | Foto: Ulrike Nier

Nachdem der Haupttrakt noch während des Krieges mit einem provisorischen Notdach versehen und einzelne Wohnungen bereits wieder bewohnbar gemacht worden waren, begann nach Kriegsende der weitere Wiederaufbau des Schwesternhauses. Teilweise wurden zerstörte Wohnungen an stiftsfremde Personen vergeben, sogenannte Ausbaumieter, die sich als Gegenleistung verpflichteten, die Wohnungen auf eigene Kosten wiederherzustellen. So gesellten sich zu den Stiftsdamen auch Ehepaare und Familien. Als letztes wurden die Wohnungen 54 und 55 durch zwei Polizeibeamte wieder aufgebaut. Noch Anfang des Jahres 1949 rotteten diese beiden Wohnungen völlig zerbombt und ausgebrannt vor sich hin, bis sie wieder ein Dach erhielten und bewohnbar gemacht wurden. Die zerstörte Kapelle wurde nicht wieder aufgebaut, sondern nur baulich gesichert, die drei Maßwerkfenster an der Westfront wurden einfach zugemauert. Auch die zerstörten Wohnungen im Dachgeschoß (Wohnung 70-73) wurden nicht wiederhergestellt. Das provisorische Notdach über dem Haupttrakt wurde 1956 durch ein massives Flachdach ersetzt. Die monatliche Miete betrug 1946 56 RM und zwei Jahre später nach der Währungsreform 25 DM.

Michael Schimanski im Jahre 1997; Edit 2020: gendergerechte Sprache

1971 – 1978: Vom Damenstift zum Studierendenwohnheim

„Von einigen undichten Stellen abgesehen, durchaus bewohnbar“

Westfassade 1976
Die Westfassade 1976 | Foto: Ulrike Nier

Das „unzweckmäßige Innere“ des Damenstiftes Schwesternhaus bereitete dem Verwaltungsrat der Schwesternhausstiftung schon seit Mitte der 50er Jahre Kopfzerbrechen. Ofenheizung und Gemeinschaftstoiletten entsprachen bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr modernen Ansprüchen an altengerechtes Wohnen. Da aber eine Modernisierung des alten Stiftsgebäudes in der Schwesternhausstraße eine sehr kostspielige Angelegenheit geworden wäre, entschied man sich Ende der 60er Jahre für einen völligen Neubau. Dem entgegen kam, dass die unter chronischem Platzmangel leidende Tierärztliche Hochschule schon länger Interesse an dem Grundstück gezeigt hatte. Im April 1970 begannen die Bauarbeiten für das neue Stiftsgebäude in der Brabeckstraße 92 in Bemerode, das im Juli 1971 von den Stiftsdamen in Bezug genommen werden konnte. Das alte Haus wurde anschließend zusammen mit dem Grundstück für 2,2 Mio. DM als Vorratsfläche für die Tierärztliche Hochschule an das Land Niedersachsen verkauft. Im Übergabeprotokoll wurde dabei über den baulichen Zustand des Hauses vermerkt: „abgesehen von einigen undichten Stellen im Flachdach durchaus bewohnbar“.

Zwischennutzung von Studierenden?

Ein im März 1971 vom Wissenschaftsrat verabschiedeter Ausbauplan für die Tierärztliche Hochschule sah den Abriss den Schwesternhauses und den Neubau eines sogenannten „Dreier-Institutes“ vor, das das Institut für tierärztliche Lebensmittelkunde und Fleischhygiene, das Institut für Milchkunde und das Institut für Biometrie und Dokumentation beherbergen sollte. Im Laufe der nächsten Monate stellte sich jedoch heraus, dass dem Land keine finanziellen Mittel für Hochschulneubauten mehr zur Verfügung standen. Nicht einmal Geld für den Abriss des alten Schwesternhauses sollte noch vorhanden sein. Da schlug der damalige Rektor der TiHo, Prof. Hans Hill, dem AStA der TiHo vor, das Schwesternhaus übergangsweise für studentisches Wohnen zu nutzen, bis das Haus abgerissen werden könnte.

Südansicht des Hauses 1976 | Foto: Ulrike Nier

Die Vergabe der Wohnungen und die Verwaltung des Hauses sollte der AStA übernehmen und dabei außerdem für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit sorgen. Angesichts der ungünstigen Lage auf dem Wohnungsmarkt wurde Hills Vorschlag vom AStA aufgegriffen, allerdings sah man sich wegen der damit verbundenen kontinuierlichen Arbeitsbelastung nicht dazu in der Lage, die Verwaltung des Schwesternhauses selbst zu übernehmen. Stattdessen wurde vorgeschlagen, die Verwaltung den zukünftigen studentischen Bewohnern selbst zu übertragen, also eine Selbstverwaltung einzurichten – ein Vorschlag, der von Hill akzeptiert wurde.

Durch die nachdrückliche Unterstützung Hills konnte schließlich eine Zustimmung für die studentische Nutzung beim zuständigen Kultusministeriums erwirkt werden – unter der Bedingung, dass dem Land dadurch keine Kosten entstünden.

Erste Bewohner*innen in Selbstverwaltung

Grundsätzlich wohnberechtigt waren VMTA-Schüler*innen und Studierende der TiHo. Verbindungsstudenten und Leute mit einer anderen sicheren Bleibe in Hannover wurden nicht akzeptiert. Auch bekamen Pärchen, die schon zusammen wohnten, im Schwesternhaus nur eine Wohnung. Durch die Wohnungsvergabe an Menschen mit wirklichem Bedarf sollte erreicht werden, dass sich diese neuen Bewohner*innen auch für das Schwesternhaus einsetzten. Drei Wohnungen wurden außerdem an „Angehörige der Arbeiterklasse“ vergeben – auf jeder Etage eine -, die als Gegenleistung handwerkliche Arbeiten im Haus übernehmen sollten. Die Nachfrage nach einer Wohnung in einem heruntergekommenen, selbstverwalteten Abrisshaus unter den eher konservativen TiHo-Studierenden war allerdings nicht allzu groß, zumal es ja nur ein Wohnen auf Zeit sein sollte; ein Risiko, das nicht viele auf sich nehmen wollten.

An einem bestimmten Stichtag im Spätsommer 1971 besichtigten dann alle bisherigen 20-30 Wohnungsinteressierten zusammen das Schwesternhaus und suchten sich eine Wohnung aus. Unter diesen Erstbezieher*innen waren fast alle Mitglieder des AStA. Die Vergabe der anschließend noch freien Wohnungen erfolgte durch die Hausversammlung. Wohnungsbewerber*innen mussten sich dort vorstellen und eine Abstimmung über sich ergehen lassen. Es dauerte eine ganze Weile, bis alle Wohnungen vergeben waren.

Zweiter Flur
Blick in den Mittelteil des zweiten Flurs | Foto: Ulrike Nier

„Bis zum August 1971 habe ich eigentlich ein ziemlich ruhiges Leben geführt – vielleicht zu ruhig. Ich wohnte in der elterlichen Wohnung in der überaus anständigen hannöverschen Südstadt, studierte im 8. Semester Tiermedizin und hatte einen Freund, der meinen Eltern wohlbekannt war. Doch dann sollte sich mein Leben plötzlich ändern: Ich erfuhr, daß jenes unheimliche, verfallene Gebäude hinter der Hochschule, das „Damenstift Schwesternhaus“, bis zu seinem wohl in nicht allzu ferner Zukunft bevorstehenden Abriß den Studenten der TiHo zu Wohnzwecken zur Verfügung gestellt werden sollte. Alles in Selbstverwaltung, 35 DM Miete plus Wassergeld. Das konnte ich mir sogar von meinem armseligen Stipendium leisten. Also, nichts wie hin!

Es gibt immer Leute, die schneller sind. So fand ich dort schon eifrig räumende, pinselnde und vor allen Dingen schöne, alte Möbel schleppende Tiermedizinstudenten vor. Um sie herum wuselten Hunde aller Größen. Aber auch alte Leute, die noch kein neues Zuhause gefunden hatten, schlurften verwirrt über all diese plötzlichen Aktivitäten durch die dunklen Flure und tauchten hinter verwinkelten Ecken auf, und man wußte nicht, ob man sich selbst mehr erschrocken hatte oder diese verbliebenen greisen Bewohner. Richtig leer waren die Wohnungen nicht. Zwischen Wachstuch, Resopalplatte und Linoleum konnte man gelegentlich einen kleinen schönen Schrank, einen alten Stuhl oder andere antike Dinge ergattern. Die ehemaligen Bewohner hatten diese Sachen teilweise freiwillig aber sicher auch teilweise unfreiwillig zurückgelassen. In einer Wohnung war sogar noch das verschimmelte Essen auf dem Teller in der Küche – wer weiß schon, warum. Über allem lag ein unsagbarer Geruch von Muff, Feuchtigkeit und Verfall, eingetaucht in eine etwas unheimliche, auch am hellen Tage nicht verschwindene Dunkelheit.

Es gab Bereiche, die waren einfach abgeschlossen und versperrt. Es hatte im Krieg Bombenschäden gegeben, die auch gut 25 Jahre später noch nicht behoben waren, so daß tatsächlich Einsturzgefahr bestand. Der Blick in die Kapelle war einfach umwerfend: Durch das im Krieg zerstörte Dach konnte man den Himmel sehen. Unter den gebrochenen, verkohlten Dachbalken war ein längerer Aufenthalt kaum zu empfehlen und auch von niemandem ernsthaft angestrebt, da der gesamte Boden knöchelhoch mit Taubenkadavern bedeckt war. Trotzdem gab es einen mutigen Dieb, der Verwendung für den alten Altar hatte.

Für meine erste Nacht in Wohnung 4 lieh ich mir den Cockerspaniel meines Freundes, damit ich, falls ein nächtlicher Klobesuch nötig sein sollte, nicht alleine den langen dunklen Flur hinunter mußte. Ich weiß nicht, wer mehr Angst hatte, der Hund oder ich.“ –  Renate Fries-Jung über ihren Einzug 1971

Abschied der letzten „Altbewohner*innen“

Erst im Herbst 1972 wurde als letzte Wohnung die Nummer 54, in der bis dahin ein pensionierter Polizeibeamter gewohnt hatte, von einem studentischen Mieter bezogen.  Da die neuen Wohnungen in der Brabeckstraße den Stiftsdamen deutlich weniger Platz boten, kam die erste Generation studentischer Bewohner*innen im alten Schwesternhaus günstig in den Besitz alter Möbel der ehemaligen Bewohnerinnen – heute z. T. wertvolle Antiquitäten. Auch die monströsen Teestubenschränke und der Altar in der Kapelle blieben so im alten Schwesternhaus zurück. Nur das Steinbild des Stiftsgründers Hermann Bödeker wurde mitgenommen und im Garten des Neubaus in Bemerode wieder aufgestellt. Martha Kadditz, eine der ehemaligen Stiftsdamen berichtet:

Kachelofen
Die Kachelöfen noch in Betrieb | Foto: Ulrike Nier

„1968 bin ich in Wohnung 23 eingezogen. Das war im Erdgeschoß ganz am Ende des Flures direkt gegenüber dem Wehrkommando. Ich hatte ja nur einfachverglaste Fenster, die noch nach außen aufgingen. Das Putzen war furchtbar, wenn man da hochklettern musste. Es war auch interessant, wenn wir zur Toilette mussten. Da hätten wir Rollschuhe gebrauchen können, so weit war das.

Als ich dort einzog, war ich 62 Jahre alt. Jetzt wohne ich schon fast 30 Jahre im Stift, davon 26 Jahre im neuen Gebäude. Als das neue noch gebaut wurde, haben wir uns gesagt: Wenn das fertig ist, dann freuen wir uns aber schon. Es fiel gar nicht schwer, Abschied zu nehmen. Es war dort hundekalt, was denken Sie! Zuerst hatte ich noch einen ganz alten großen Kachelofen im Wohnzimmer. Der wurde dann abgerissen und ich habe mir einen gebrauchten Buderus-Ofen gekauft, den habe ich in der Wohnung gelassen. Mit dem Ofen haben sicherlich danach noch die Studenten geheizt. Schon als ich 1968 ins Stift einzog, wussten wir von dem geplanten Neubau. Da habe ich erstmal nur ein paar alte Möbel gekauft, damit ich ein bisschen was hatte: Beim Umzug habe ich dann alles da gelassen und mir für die neue Wohnung neue Möbel gekauft.

Mietverträge mit Renovierungsverbot

Küche
Blick in die Küche der Doppelwohnung 36/37 | Foto: Ulrike Nier

Die mit dem Kultusministerium ausgehandelte Miete für eine Wohnung betrug anfangs 45 DM, später 55 DM. Die ersten Monate wurde die Miete noch in eine gemeinsame Hauskasse gezahlt, erst ab Januar 1972 wurden für jede Wohnung Einzelmietverträge mit der TiHo als Vermieter abgeschlossen und die Miete an das Land gezahlt. Noch bis 1990 lautete der letzte Absatz der Mietverträge stets: „Dem Mieter ist bekannt, daß das Wohngebäude Schwesternhaus zum Abbruch zwecks Errichtung eines Institutsgebäudes bestimmt ist und daher nur vorübergehend für Wohnzwecke zur Verfügung steht; ihm ist ferner bekannt, daß der in Aussicht stehende Abriß des Gebäudes es dem Vermieter verbietet, Instandsetzungen am und im Gebäude auf seine Kosten vorzunehmen“ – eine Formulierung die Ende der 80er Jahre, als von Abriss und Neubau längst nicht mehr die Rede war, beim Abschluss des Mietvertrags bei frischgebackenen Schwesternhäusler*innen teilweise für erhebliche Verunsicherung sorgte.

Duschen im Schwimmbad

Vor allem die sanitären Einrichtungen hatten anfangs einen sehr niedrigen Standard. Es gab lediglich vier Gemeinschaftstoiletten pro Etage, Badezimmer existierten nicht. Zum Duschen mußten die Bewohner*innen in das gerade fertiggestellte neue Studierendenwohnheim am Bischofsholer Damm oder ins Schwimmbad gehen. Erst mit Hilfe der ersten Mieteinnahmen wurden 2 Standduschen pro Etage eingebaut. Auch das Gasleitungssystem wies Mängel auf: Bei einer Druckmessung stellten die Stadtwerke einen erheblichen Abfall des Gasdrucks fest, der ein Leck vermuten ließ. Das Gas wurde daraufhin längere Zeit abgestellt.

Zwischen den hohen alten Regalen der Teestube fanden die ersten Flurversammlungen statt, auf denen Flursprecher gewählt und Regeln für das Zusammenleben aufgestellt wurden: Beispielsweise, daß man Hunde nicht für eine 3tägige Reise in einen Flurteil eingesperrt kläffend und kackend zurücklassen durfte, daß man nicht die Hundekacke unterm Schuh auf irgendeiner Treppenstufe abstreifen durfte und daß man nicht in Abwesenheit seines Nachbarn die Sicherung aus dem Kasten im Flur „ausleihen“ durfte. Sonst konnte es unter Umständen passieren, daß bei dessen Rückkehr aus dem Urlaub sämtliche Goldfische mit dem Bauch nach oben im Aquarium schwammen. Auch Hühnerhaltung und das Schlachten von Hammeln im Keller mußten ausdiskutiert werden. Den Bewohnern in der Nachbarschaft war das alles ziemlich unheimlich. Beim Edeka-Kaufmann am Bischofsholer Damm erzählte man sich, daß die Mädchen noch auf der Straße quiekten, wenn sie das Haus verließen.

Für fällige Reparaturen wurden drei langhaarige sogenannte Handwerker im Haus aufgenommen, die für freies Wohnen kleinere Reparaturen zu übernehmen hatten. Zumindest zwei davon hatten es bezüglich ihrer Arbeit nicht sehr eilig und waren gelegentlich ein wenig zugekifft.

Reinigungsarbeiten im Flur | Foto: Ulrike Nier

Das Thema Flurreinigung und vor allen Dingen die Reinigung der Toiletten beherrschten jede Flurversammlung. Nach kurzer Zeit wurde das erste Mal baulich investiert: Es gab Duschen – nicht sehr komfortabel, aber immerhin. Nun kam noch der Streitpunkt, Reinigung der Duschen hinzu. Inzwischen hatte jeder in seiner Wohnung seinen Einrichtungsstil gefunden. Besonders beliebt war das Zimmern von Hochbetten. Geschmacklich gab es alles, was man sich nur vorstellen kann: Von Kerze und Konservendosen als Aschenbecher neben einer durchgelegenen Matratze als Gesamteinrichtung bis hin zu Blümchenrüschen an Fenstern, Lampen und am Himmelbett war alles zu finden. Ein Bewohner brachte im Erdgeschoßflur genau in der Mitte des Haupttraktes eine riesige Schaukel an der Decke an, die die Kinder aus der Umgebung herbeilockte. Es machte ihnen Spaß, beim Schaukeln den restlichen Stuck von den Wänden zu treten.“ –  Renate Fries-Jung über ihren Einzug 1971

Wildwuchs im Garten

Blick aus dem Garten auf die Ostfassade | Foto: Ulrike Nier

Der Garten des Schwesternhauses war zur Zeit der Übernahme ein dem Damenstift angemessener Park mit englischem Rasen und Ziersträuchern. Da sich niemand weiter um ihn kümmerte, entstand durch ungezügelten Wildwuchs bald ein verwunschener Naturgarten. Der wurde allerdings von den vielen Hunden im Haus regelrecht „zugeschissen“. Zu den ältesten, noch heute gültigen Beschlüssen der Selbstverwaltung gehört als Folge auch das Hundeverbot im Garten. Tatsächlich entwickelten sich die zahlreichen Hunde durch Gestank und Lärm und durch ihre Hinterlassenschaften bald zu einem dauerhaften Diskussionspunkt im Haus. Schon im ersten Jahr gab es auch von der benachbarten Bundeswehrverwaltung Beschwerden über Hundegebell. Daraufhin erließ der TiHo-Rektor die Auflage, dass bei allein in der Wohnung zurückgelassenen Hunden die Fenster zu schließen seien.

Salmonellenplage als Bewährungsprobe

Salmonellen
Hunde sind von Anfang an nicht aus dem Schwesternhaus wegzudenken gewesen. | Foto: Ulrike Nier

„Über 70 Hunde gab es in einem Haus – das war schon nicht so ganz wenig. Sie wurden gerne mit in die Vorlesungen genommen, wo sie sich räkelten, gähnten oder zu aktuellstem Vorlesungsstoff furzten. Zum Bäcker war die Abkürzung über das Hochschulgelände üblich. 

Auch dem Hund von Prof. Brass gefiel es immer sehr gut in unserem Schwesternhaus, weil von den über 70 Hunden immer irgendeine Hündin läufig war. Dabei hob der Professoren-Deutsch Drahthaar gern mal an diesem oder jenem Türrahmen das Bein. Wie man munkelte, führte das einmal dazu, daß er das Schwesternhaus mit blaulackiertem Hoden wieder verließ. Einige Hundenarren konnten sich mit ein oder zwei Hunden in ihrer Wohnung nicht begnügen und züchteten Hunde. In einer bestimmten Wohnung rutschte man beim Betreten entweder auf einem Stück Pansen aus oder man stolperte über den Hinterschenkel eines Pferdes, der zur Ernährung und Beschäftigung der Hunde im Wohnzimmer lag und mit seinem Geruch wohl nur auf die zahlreichen Schmeißfliegen einladend wirkte.“

–  Renate Fries-Jung über Wohnzeit in den 70ern

Schild TiHo
„Das Mitführen von Hunden ist aus seuchenhygienischen Gründen untersagt.“ – Diese Schilder hängen bis heute an den Eingängen der TiHo. | Foto: Ulrike Nier

Zu einer ernsten Bedrohung für das Schwesternhaus entwickelten sich 1973 mehrere Hunde mit chronischem Durchfall, bei denen Salmonellen nachgewiesen wurden. Vielen professoralen und studentischen Hochschulangehörigen war das Schwesternhaus sowieso ein Dorn im Auge und wurde argwöhnisch betrachtet. So entwickelte sich in dieser Situation schnell eine Diskussion über das Haus an sich. Die Forderungen gingen bis zur sofortigen Schließung des mit „Salmonellenpuff“ oder „Kommunistenwohnheim“ titulierten Wohnprojekts. Erst nach teilweise nächtelangen Diskussionen mit Hochschulvertreter*innen konnte der Konflikt beigelegt werden. Alle Bewohner*innen und Hunde bzw. deren Ausscheidungen wurden auf Salmonellen untersucht. Die caninen Salmonellenausscheider wurden eingeschläfert und auf dem Hochschulgelände wurden Hundeverbotsschilder aufgestellt, die noch bis heute dort hängen. So konnte ein Ende für das studentische Wohnen im Schwesternhaus noch einmal abgewendet werden.

Die Kehrtwende

Wandmalerei
Liebevolle Wandmalerei im zweiten Flur. | Foto: Ulrike Nier

Einen Durchbruch in der öffentlichen Hochschulmeinung brachte aber erst 1974 ein Tag der offenen Tür im Schwesternhaus, zu dem auch einige der eigens eingeladenen TiHo-Professor*innen kamen. In den 14 Tagen davor wurde das Haus auf Hochglanz gebracht und der Flur im 2. Stock gestrichen und mit Wandmalereien versehen, um sich der Öffentlichkeit möglichst positiv zu präsentieren. Einige der professoralen und sonstigen Besucher*innen waren durchaus angetan, sodass es danach an der TiHo vor allem im akademischen Mittelbau und auch bei einigen Professor*innen mehr Akzeptanz für das Schwesternhaus gab. Bis die Planungen zum Abriss des Schwesternhauses 1981 endgültig zu den Akten gelegt wurden, war es allerdings noch ein langer Weg.

Denkmalschutz für das Schwesternhaus

Wandmalerei
Wandmalerei im zweiten Flur | Foto: Ulrike Nier

Eine Reihe von Fakten führte bis dahin dazu, daß das Schwesternhaus nicht mehr für TiHo-Zwecke genutzt werden konnte. 1974 wurde es unter Denkmalschutz gestellt, was den Abriss zwar nicht unmöglich machte, jedoch erheblich erschwerte. Deshalb wurde zunächst erwogen, das Schwesternhaus umzubauen und als Institut für Pathologie zu nutzen (mit Mikroskopiersaal im Garten). Dieser Plan wurde aber wegen zu kleiner Räume, zu niedriger Decken, zu geringer Tragfähigkeit der Böden und insgesamt zu hoher Umbaukosten wieder verworfen. Außerdem war inzwischen der vollständige Umzug der Tierärztlichen Hochschule an den Bünteweg beschlossene Sache, sodass größere Projekte am alten Standort abgeblasen wurden.

Da das Schwesternhaus 1970 zur Hälfte mit Bundesmitteln erworben worden war, mußte das Land Niedersachsen nun die Hälfte des Anfang der 80er Jahre auf 3,4 Mio. DM bezifferten Zeitwertes an den Bund zurückzahlen. Wahrscheinlich wäre der Abriss auch in der Öffentlichkeit auf erheblichen Protest gestoßen, da bereits ein ähnliches Wohnprojekt in der ehemaligen Kinderheilanstalt in der Ellernstraße auf diesem Weg kaltgestellt worden war.

Michael Schimanski im Jahre 1997; Edit 2020: gendergerechte Sprache

1978 – 1990: Das Schwesternhaus in Vereinshänden

Abrißbirne oder Instandsetzung?

Baufällige Westfassade
Die baufällige Westfassade | Foto: Ulrike Nier

„Ich bin davon überzeugt, daß die Übernahme des Hauses durch den Verein auf keine andere Art und zu keinem anderen Zeitpunkt gelingen konnte. Es wäre nicht früher möglich gewesen, und heute würde es schon gar nicht gehen. Vieles hat da mit hineingespielt. Wären wir bei unseren Gesprächen mit der Verwaltung (Ministerium für Wissenschaft und Kultur, MWK) auf das getroffen, was man unter deutscher Verwaltungsmentalität versteht anstatt auf offene, flexibel denkende und engagierte Leute, dann wäre die Prognose tiefschwarz gewesen. Schon lange vor der eigentlichen Übernahme hatten weitsichtige Leute den Schwesternhausverein gegründet, schon vorher wurde das Haus auf Betreiben der Bewohner unter Denkmalschutz gestellt. Und als dann schließlich die Gelegenheit kam, waren die Hausaufgaben gemacht und wir konnten reagieren.“

– Wolfram Martens im Jahre 1997

Die wohl wichtigste Veränderung in der Struktur der Heimselbstverwaltung betraf die Etablierung einer einzigen, zentralen Heimkasse – davor herrschte in finanziellen Dingen eine weitgehende Autonomie der Flure. Zum ersten Mal war bekannt, wie viel Geld eigentlich zur Verfügung stand: Die Heimkasse verfügte über Reserven in der Größenordnung von fast 50.000,- DM, und mit dieser Summe „ließ sich schon was anfangen“. Auf dieser Grundlage wurde der Plan gefasst, die Kapelle zu renovieren. So stellte das Haus nach der nächsten HVV und nach eingehender Diskussion den Antrag auf ”Erlaubniserteilung zur Renovierung der Kapelle auf eigene Kosten” an den Gebäudeträger, die TiHo Hannover.

Von der TiHo jedoch kam weder Bewilligung, noch Ablehung, denn man wollte das „Problem Kapelle“ nicht in eigener Verantwortung entscheiden. Das Ministerium für Wissenschaft und Kultur wurde hinzugezogen.

Während der dortigen Verhandlungen schien die Idee des Hauses und sein Modellcharakter auf Gefallen zu stoßen, weshalb man bemüht war, eine Lösung zu finden. So fiel dann irgendwann der Satz: „Wenn Sie schon diese Kapelle renovieren wollen, warum nehmen Sie dann nicht gleich das ganze Haus? Dann können Sie mit der Kapelle machen, was Sie wollen.“

Bloß keinen Ärger mit den Studierenden

Reklame
Bewohner*innen werben für den Erhalt des Hauses | Bild: Ulrike Nier

Warum diese Großzügigkeit? Das denkmalgeschützte Haus, das offiziell den Status eines Abbruchhauses hatte, zu sanieren, würde das Land teuer kommen. Schon eine Kostenschätzung, die mehrere Jahre vorher vom Bauamt vorgenommen worden war, kam auf 5,8 Mio. Andererseits musste mit dem Haus dringend etwas geschehen, sonst musste es weg – der Landesrechnungshof hatte die Liegenschaft Schwesternhaus beanstandet und damit das MWK erheblich unter Druck gesetzt. Da sich an einer denkmalgeschützten Immobilie der Rechtslage nach baulich keine Veränderungen vornehmen lasse, hatte sich das Gebäude als Fehlinvestition erwiesen.
Die Alternative, ein Verkauf an die benachbarte Bundeswehr, hätte bedeutet, rund 100 Studierenden den Wohnraum zu entziehen – und wäre erwartungsgemäß damit auf deutlichen öffentlichen Widerstand gestoßen.

„Das wollte man nicht, „keine neue Hafenstraße“. Die Leute im MWK hatten offenbar ein Fernsehbild mit 100 Schwesternhäuslern vor Augen, die marodierend und steinewerfend durch die Lister Meile zogen.

Ich erinnere mich gut, wie Gero und ich einen raschen Blick wechselten und kann mit einigem Stolz berichten, daß wir beide keine Miene verzogen. Es gelang uns heldenhaft, das Grinsen zu unterdrücken, welches sich quasi zwanghaft und wie von selbst auf unsere Gesichter stehlen wollte: Das Schwesternhaus – eine Hafenstraße? Dieses Potential hatte das Haus nicht, hat es meines Wissens nie besessen.“ 

– Wolfram Martens im Jahre 1997

Dornröschen im Taubendreck – die Wiederauferstehung der Kapelle

Kapelle Gerüst
Baugerüst in der Kapelle

„Wo heute die Kapelle ist, war einst ein mit einer Holzplatte fest verschraubtes Doppelportal. Dahinter ein Berg von Taubenkot und verrottenden Taubenkadavern, garniert mit ein paar Trümmerresten, die nach dem Bombenangriff und dem Brand vergessen worden waren. Über einen verwinkelten Einstieg mit einer Holzleiter in den Resten des ehemaligen Dachgeschosses konnte man auf den ganzen Salat runterschauen.“

– Wolfram Martens im Jahre 1997

Wer heute die Schwesternhauskapelle betritt, wird kaum auf den Gedanken kommen, in welchem Zustand diese sich bis 1989 befand. Die Verfasser*innen wortreicher Schreiben an ministerielle Geldgeber*innen sprachen angesichts des traurigen Zustandes vor 1989 von einem „Trümmerhaufen im Dornröschenschlaf“.

5 Monate dauerte die Bewilligung der „Vereinbarung“ zwischen der TiHo und dem Schwesternhaus, mit der nun wurden dem Schwesternhausverein die Besitzrechte an der Kapelle und Teestube, sowie der Wohnungen übertragen wurden – unentgeltlich, unbefristet und kündbar. Kündbar etwa dann, falls die Übernahme des Hauses durch den Verein doch noch scheitern sollte.

Bauschutt
Bauschutt aus der entseuchten Kappelle

Nun ging alles Schlag auf Schlag: Für 105.000 DM Eigenmittel aus Rücklagen des Hauses (angehäuft durch die monatlich um 60 DM zusätzlich erhöhte Mieten) plus 25.000 DM Zuschuss von der Klosterkammer wurde innerhalb von 4 Monaten „die Bude wieder auf Vordermann gebracht“. Eine Knochenarbeit: Wegen der drohenden Seuchengefahr wurde die Kapelle zunächst von einer Spezialfirma entrümpelt. (Die gleiche Firma lehnte nach dieser Erfahrung Jahre später die Entseuchung des Kapellenturmes ab.) Anschließend wurden  die zugemauerten Fenster nach fast 50  Jahren wieder geöffnet. In den Fensterrahmen fanden sich noch Reste der alten Buntglasfenster und in der Absis kam die alte Wandbemalung wieder zum Vorschein. Etwa 2000 Arbeitsstunden flossen seitens der Schwesternhäusler*innen in die Wiederauferstehung der Kapelle.

Buntglas, Holz oder Stahl?

Freigelegte Absis

„Auf zahllosen SKTs mit wechselnder Besetzung und ebenso zahllosen Abstimmungen wurde über die Innengestaltung debattiert: Welches Gelb, Parkett oder Fliesen, Buntglas ja oder nein, Halogenlampe oder Glühbrine. Das Entscheidungsverfahren war nicht immer unumstritten. Mit der orginalgetreuen Wiederherstellung nahm man es jedoch nicht ganz so genau. Tür, Decke und Fenster wurden zwar nach historischem Vorbild gestaltet – aber die Wandbemalung der Absis verschwand nach fachgerechter Konservierung (denkmalschützerische Auflage) unter dem neuen Wandanstrich. Balkenkonsolen und Deckenbemalung wurden lieber gleich ganz unter den Tisch fallen gelassen. Das größte Problem stellten die riesigen Fenster dar (Stückpreis 7500 DM). Eines ging beim Einbau zu Bruch.“

– Michael Schimanski im Jahre 1997

Am 21. Oktober 1989 konnte wie geplant die Einweihung stattfinden, auch wenn die Kapelle ihre Komplettierung erst im darauffolgenden Jahr erfuhr. Im Herbst 1990 wurde schließlich die Empore eingebaut, wobei sich die „Futuristenfraktion mit ihrer Stahlkonstruktion gegen die Traditionalistengruppe mit Holzvariante in klassischer L-Form“ durchsetzten. Anschließend wurden im ehemaligen Notzimmer 40a auch die Kapellentoiletten eingebaut – für 30.000 DM aus Landesmitteln.

Die dabei zerstörte Absis über dem Flurwaschbecken kostete den Denkmalschützer sein Herzblut, und das aus dem TiHo-Etat bewilligte Geld raubte der TiHo-Verwaltung die Nerven. Im gleichen Jahr wurde auch die Bühne eingebaut, Vorhänge genäht und 100 Stühle aus sozialistischen Restbeständen angekauft – weitere Bausteine zum Kulturzentrum Kapelle.

Der Erbpachtvertrag

Kapellenrenovierung
Mit der Renovierung der Kapelle begann im Schwesternhaus eine neue Zeit

Über drei Jahre und drei Vereinsvorstände hinweg wurden mehrere Modelle der Übernahme des Schwesternhauses durch den Verein ausgearbeitet. Mit den gerade ausreichenden Vereinsgeldern wurden Gutachten  in Auftrag gegeben, welche die Kosten der Instandsetzung und Erhaltung des Hauses umreißen sollten. Darauf aufbauend wurde die Voraussetzung zur Übernahme der Trägerschaft durch den Verein formuliert: Insgesamt 2,8 Mio. DM sollte das Land zur Verfügung stellen. Der Landtag stimmte der Mittelbewilligung schließlich zu. Während die Renovierung der Kapelle schon in vollem Gange war, wurde der Erbpachtvertrag ausgehandelt und schließlich unterschrieben.

„Viele glaubten uns nicht so recht, wenn wir auf der SKT oder der HVV mal wieder positiv von den Gesprächen im MWK berichteten. Zu tief saß das Feindbild vom bösen Ministerium, zu stark war das Mißtrauen verwurzelt, wir würden hier irgendwie über den Tisch gezogen. Wollten wir das alles überhaupt? Konnte das funktionieren, egal was das Gutachten der PG Schaumburg sagte? Und wenn, was würde werden, wenn die Räumungs- und Abrißgefahr gebannt wäre und die Schwestern damit das einende Element, den gemeinsamen Gegner verlieren würden? Würde das Engagement nachlassen, das immer wieder, über die Jahre hinweg, Leute aus dem Haus dazu gebracht hatte, sich der Sache anzunehmen und den Laden am Laufen zu halten? Gerade diese Befürchtung ließ uns eine Weile lang die Version mit dem Studentenwerk vorantreiben, vielleicht aus Angst vor der eigenen Courage. Besser das Schwesternhaus unter sicherer Oberhoheit als Spielforum für ein paar Selbstverwaltung spielende Studis. Und wenn das Haus renoviert und damit endgültig eine von der Mentalität her andere Bewohnerschaft einziehen würde, die bisher zumindest teilweise aus Mangel an Komfort weggeblieben war? Würde die endgültige Öffnung für andere Studienrichtungen, unter Zurückdrängung der Tiermedizinerfraktion, eher zu massiven Problemen oder zu neuen Impulsen führen? Und so weiter…

Und so kam es – trotz bzw. gerade wegen dieser langen und ungezählten Diskussionen auch zu solchen Phänomenen wie dem, daß sich die Bewohnerschaft eben mal kurz durch einstimmigen (ohne Enthaltung!) HVV-Beschluß eine Verdoppelung des zu zahlenden Flurgeldes verordnete, um rechtzeitig Reserven für die Übernahme anzusparen. Einigkeit herrschte von vornherein auch darin, die Forderungen zwar realistisch, aber auch moderat zu formulieren. Wir wußten, daß das MWK auch damals schon nicht viel Geld zur Verfügung hatte. Aber glücklicherweise war alles schon unter Dach und Fach, als Gerhard Schröder dann schließlich die Wahl gewann und sich Umschichtungen im Haushalt absehen ließen. Der Vertrag war so gut wie unterschrieben und die vom Land eingegangenen Zahlungsverpflichtungen fast schon bestandskräftig.

Auch war eigentlich allen klar, daß es nicht unser Ding sein konnte, die Probleme der zukünftigen Schwestern vorweg zu lösen. Das mussten die schon selber tun.“

– Wolfram Martens im Jahre 1997

1993 – 1996: Wiederaufbau des Spitzdachs und die finanzielle Krise

Frühstück zwischen riesigen Schuttbergen

Nachdem die Übernahme des Hauses durch den Verein in Aussicht stand, wurde auf der Mitgliederversammlung im Herbst 1990 erstmals konkret über den Wiederaufbau des Spitzdaches diskutiert und dabei die Aufstellung eines Finanzierungsplanes beschlossen. Entscheidend wurde die Möglichkeit, für die Schaffung studentischen Wohnraumes öffentliche Gelder aus einem Bund-Länder-Förderprogramm zu erhalten.

Im Herbst 1991 wurde im zuständigen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) ein Antrag über die Förderung von 29 Wohnplätzen in Höhe von 1,3 Millionen DM gestellt. Problem war nun die Finanzierung der fehlenden 600.000 DM. Die Deckung dieser Finanzierungslücke durch Spenden von Privatfirmen wurde heftig diskutiert. „Schmutziges Geld“, so einige Stimmen im Haus, von Pharmariesen und anderen Großkonzernen war nicht unbedingt erwünscht, sodass das ganze Projekt auf einer HVV im Herbst 1991 quasi auf Eis gelegt wurde.

Die Vereinsmitgliederversammlung im Februar 1992 sprach sich dann aber grundsätzlich für das Spitzdach aus. Trotz noch unklarer Gesamtfinanzierung sollte das Wagnis eingegangen werden. Die fehlenden 600.000 DM sollten nun über Stiftungen hereinkommen – leider erfolglos, während die „öffentlichen“ 1,3 Millionen bewilligt wurden.. Das ganze Projekt geriet nun in Zugzwang, da die Gesamtfinanzierung bis zum 1. Juni 1992 stehen musste. Nach einer vom MWK nur widerstrebend erteilten Fristverlängerung bis zum 1. August begann die fieberhafte Arbeit an einem hieb- und stichfesten Finanzierungsplan.

Mehr Wohnraum als Lösung

Die Lösung brachte schließlich eine Kreditzusage der Ökobank Frankfurt und die Idee, die Zahl der Wohnplätze unter Nutzung einer 2. Etage im Spitzdach aufzustocken. Nachdem im Herbst 1992 auch für die erhöhte öffentliche Förderung das OK erteilt wurde, konnte mit dem Bau begonnen werden.

Hätte zu diesem Zeitpunkt jemand geahnt, welche beinahe existenzbedrohenden Probleme mit dem Wiederaufbau des Spitzdaches auf den Schwesternhausverein zukommen würden – der Stolz über die geglückte Finanzierung wäre nicht nur leisen Zweifeln über die Machbarkeit gewichen. Denn schließlich hatten die Schwesternhäuslerinnen* sich nicht ganz leichten Herzens überhaupt für das Spitzdach entschieden. Schon der Baubeginn stand unter keinem guten Stern: Monatelang wartete mensch auf die Baugenehmigung, und statt wie geplant Anfang August ’93 begannen die Maurer*innen erst Ende Oktober ihre Kellen zu schwingen.

Der Rohbau wurde auch nicht innerhalb von 2 Monaten fertig gestellt, sondern das Richtfest und damit die Rohbaufertigstellung fand erst im Mai 1994 statt.

Dennoch konnten die Wohnungen mit nur zweimonatiger Verspätung im Juli bezogen werden, wenngleich der Begriff „Wohnungen“ noch nicht ganz gerechtfertigt schien. Aber wer hätte nicht schon immer gerne mal zwischen Schuttbergen mit Bauarbeitern sein Frühstück verspeist?

Michael Schimanski, Bernd Schwedhelm im Jahre 1997; Edit 2020: gendergerechte Sprache

Ein Bau mit Kompromissen

Wir hatten gerade die Bestätigung vom Amtsgericht erhalten, daß wir im Vereinsregister eingetragen sind. Also übernahmen wir offiziell die Amtsgeschäfte des Vereins. Der Wiederaufbau des Spitzdaches – so unsere VorgängerInnen zu uns – sei von finanzieller und planerischer Seite her abgeschlossen und eigentlich drohe nichts Böses mehr. Es müssten nur noch ein paar Rechnungen bezahlt werden und das Geld dafür läge auf den Vereinskonten. Das war im Dezember 1994. Kurz darauf bat unser Architekt Detlev Schmidt-Lamontain sichtlich verunsichert um eine Audienz. Das hätte uns stutzig machen müssen.“

Die Rohbaurechnung hatte sich „unbemerkt“ beinahe verdreifacht. Schuld hatte der Abriss des „provisorischen“ Flachdaches, das scheinbar „bei einem Luftangriff in einem dritten Weltkrieg nicht so schnell schlappmachen sollte wie sein Vorgänger“: Vor Baubeginn waren im Zuge der Planung Bohrproben im Flachdach vorgenommen worden, um dessen Beschaffenheit zu erfassen. Danach wurden die Kosten für den Unterbau (Flachdach weg, Stahlkonstruktion drauf) berechnet. Alle Probebohrungen brachten Sand zu Tage. Während des Baus zeigte sich aber, dass man wohl die einzigen sandigen Stellen erwischt hatte. Der Rest des Daches erwies sich als stahlharter Beton, bis zu einem Meter dick. Die Entfernung kostete drei Wochen Zeit – und enorme Geldsummen.

Radikalstorno

Aufgabe des Vorstandes war es, zu stornieren, was es noch zu stornieren gab, um die geplanten Ausgaben weiter zu senken – was nicht allzu viel war, da viele Arbeiten in dieser Bauphase schon begonnen hatten oder bereits fertiggestellt waren. Angesichts dieser Situation wurden sogar bereits begonnene Projekte storniert, so zum Beispiel der Bau der Regenwassernutzungsanlage. Tatsächlich installierten die Bewohner*innen daraufhin einen großen Teil der Anlage selbst.

Der definitive Wille der Hausbewohner*innen, das Schwesternhaus und die Selbstverwaltung zu erhalten, sowie die Ergebnisse der sehr langwierigen Verhandlungen mit dem Rohbauer, der zu einer breiten Budgetkürzung bereit war, retteten über diese Phase hinweg. Nun waren jedoch auch die letzten Reserven und ein Teil der Kleinkredite verbraucht.

Baumaterial statt Mängelbeseitigung

Die Geldnot letztendlich veranlasste zu immer drastischeren Kürzungen. Anstatt auf Mängelbeseitigung zu bestehen, akzeptierte der Vorstand einigen Pfusch, der für das Haus und seine Bewohner*innen keinen Schaden bedeuten würde, um darüber Rechnungen kürzen zu können. War ein derartiger Deal nicht möglich, wurden Entschädigungen durch Sachleistungen verlangt. Auf diese Weise wurden einige Wände in der Wohnung 101 und diverse Feuerschutzwände auf den Dachböden ohne Bezahlung von Material und Arbeitsstunden hochgezogen oder fertiggestellt. Das Haus erhielt Dichtungsmaterial, Sicherheitsglas für Türen, Wohnungstüren, Eichenhandläufe für die Treppen, diverse Gipssäcke, und das großzügige Angebot vom Rohbauer auf Unterstützung bei der Beschaffung des Materials für die Feuerwehrauffahrt.
Folge dieser Kürzungen und Einigungen sind Skurrilitäten, die bis heute im Schwesternhaus für Gesprächsstoff sorgen, wie zum Beispieldie Doppeltoiletten, bei denen es am Platz für die Trennwände zwischen den Schüsseln fehlt und die schon manch lustiges Kollektiv-Urinieren zur Folge hatten.

„In einer der schon erwähnten Doppeltoiletten findet sich eine Klimaanlage der ganz besonderen Art: Lange haben nicht nur wir vor einem etwa 15 cm großen Loch, an das sich inwändig ein „Ziehharmonikablechrohr“ anschließt, gestanden und gestaunt. Immer wieder wurde es durch die verschiedensten Fachleute aus dem Haus begutachtet. Ja, einige fühlten sogar hinein (unter TiermedizinerInnen eine durchaus typische Handbewegung) aber kein Arm war lang genug, um an das Geheimnis dieses Loches heranzukommen. Es schien wichtig genug, daß selbst die Fliesenleger ihre Wandfliesen säuberlich anpaßten und kunstvoll drum herum klebten.

Neben dem schon oben erwähnten Loch in der Toilettenwand, das manchmal saugen und manchmal pusten konnte, fanden wir nicht der DIN entsprechend angeschlossene Wasserhähne in den Duschen und einige weitere Kleinigkeiten. Anstatt die Firma zur Mängelbeseitigung zu verpflichten, verlangten und erreichten wir Preisminderung, nicht zuletzt, weil auch der Oberfachinstallateur keine Erklärung für dieses bestens zum Üben des Brachioendoskopierens geeigneten Loches hatte.

Es wird vermutet, daß dieses Loch im Spitzdachklo eine direkte Verbindung zu einer Toilette des dritten Flures hat. So können nicht nur Doppelsitzungen, sondern auch Dreier- und Viererkonferenzen stattfinden. Heute befindet sich ein formschönes Ventil auf dem Loch. Wer Interesse hat, kann es ja mal aufdrehen, dran schnuppern und horchen.

Noch eine kleine Geschichte als Beweis für die Phantasie dieser Sanitär-Firma? Einige Spitzdächler litten noch lange unter winterlicher Eiseskälte. Also fanden die Sanitärarbeiter eine effektive Lösung: Der Toilettenspülkasten in der Wohnung 102 wurde mit etwa 60° C warmen Wasser gefüllt. Das Klo war deshalb zeitweise der wärmste Raum im ganzen Spitzdach. Wahrscheinlich hatte die Firma Mitleid mit den frierenden Studenten, als sie die Ergebnisse der Heizungsbauer sahen.“

– Dirk Janßen

Die Krise und ihre Folgen

Nach Abschluss des Baus des Spitzdaches herrschte über die genauen Kosten erst einmal Unklarheit. Erst als mehr und mehr Rechnungen eintrudelten, wurde das Ausmaß der Katastrophe deutlich. Ein erstes ,,kleineres” Finanzierungsdefizit wurde durch den sogenannten „Solizuschlag“ von 90 DM pro Mietvertrag gedeckt. In einem Hilferuf des Vorstands erfuhren die Hausbewohner*innen nun erstmals konkret von der Finanzkrise, über die vorher nur gemunkelt wurde. Das Projekt Schwesternhaus stand vor dem Bankrott.  Als Reaktion folgten einige Vereinsaustritte, aber auch Spenden, sowie Darlehensangebote von insgesamt 17 ooo DM.

Die meisten Kredite stammten von Freund*innen des Hauses, ehemaligen Bewohner*innen, Freund*innen von Bewohner*innen, Familienangehörigen und die übrigen letztlich aus dem Haus selbst. Auf der HVV vom 26. Juni 95 waren im Meinungsbild über 50% der Anwesenden bereit, ein Darlehen zu geben. Am 16. Oktober belief sich die Zahl der Darlehensverträge auf 54, davon waren 27 aus dem Haus gekommen.

„Der Vorstand erfuhr erst eineinhalb Jahre später durch die Abschlußrechnung der Rohbaufirma, daß die Preßlufthämmer die Krise mitverantworten. Daß hier ehrenamtliche Bau-Laien ein Dach bauen ließen, trug sicher auch mit zur Finanzkrise bei. Sämtliche Posten hatten sich verteuert und ich denke, wir haben daraus nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Zu Baubeginn hätte ein größerer Sicherheitsrahmen abgesteckt werden müssen. Und außerdem werde ich das Gefühl nicht los, daß einige Firmen auf unsere Naivität spekuliert haben.

Ideen waren gefragt. Über allem schwebte die Übernahme durch das Studentenwerk und damit das Ende der Selbstverwaltung. Die AG Kleinkram überlegte, wie man Geld in Kleinstmengen beschaffen oder einsparen könnte. Eine Benefizparty wurde geplant und durchgeführt. Ihr Beitrag ist sagenumwoben. Auch das diesjährige Straßenfest wurde unter dem Vorzeichen der Geldnot größer aufgezogen und brachte weiteres Spendengeld. Eine zweite Benefizparty fand Ende Juli statt und trotz relativ geringer Besucherzahlen kam ein netter Betrag zusammen. Bei diesen Aktionen beteiligten sich mit Sicherheit mehr als die Hälfte aller Bewohner!

Natürlich haben wir auch versucht, Geld aus der Öffentlichkeit zu bekommen. Matti Gerasch und andere riefen eine Spenden-SKT ins Leben und schrieben unzählige Bittbriefe. Der Erfolg war nicht zu verachten! Im Jahr 1995 kamen alleine 45 ooo DM aus Spenden in die Vereinskassen. Eine freiwillige Einlage, der Verkauf von Anteilen, ein Sich-Einkaufen à la Bödecker – das waren alles Ideen, die der im Frühjahr schon angedachten Kleinkreditaktion Leben einhauchten. 

Da nahm sogar jemand einen Kredit bei der Bank auf, um uns einen Kredit geben zu können. Nach drei Jahren Zittern können wir sagen: Wir haben das Spitzdach gewagt und sind mit einem blauen Auge davongekommen. Es ist gut zu wissen, daß das Engagement bei einigen nicht vor der Geldbörse Halt macht!

Ich habe schon das Gefühl, daß dies alle im Haus einander ein Stück näher gebracht hat. Wir hatten wieder ein gemeinsames Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte.“

– Telse Bruns im Jahre 1997

1996 ist die veranschlagte Summe schließlich getilgt, das Haus jedoch ohne Rücklagen. Erst eine umsichtigere Verwaltung sowie verschiedene Mieterhöhungen können das Haus bis zur Jahrttausendwende wieder auf Kurs bringen. Der Verein hat aus den Fehlern seiner Vorgänger*innen gelernt.

2012: Wir bekommen den Studentenwerkspreis

Das Schwesternhaus wird ausgezeichnet

Verleihung Studierendenwerkspreis

Alljährlich werden in Hannover studentische Vereine, Gruppen und Einzelpersonen mit dem Studentenwerkspreis für soziales Engagement im Hochschulbereich durch das Studentenwerk Hannover ausgezeichnet. Im Jahr 2012 wurde der Schwesternhausverein als Träger des Schwesternhauses vom AStA der Tierätztlichen Hochschule für sein vorbildliches und vor allem langjähriges Engagement im Bereich der Wohnungsvermietung und studentischen Kultur vorgeschlagen. Das Komitee folgte diesem Vorschlag und zeichnete den Verein als einen Preisträger des 12. Studentenwerkspreises mit einem Preisgeld in Höhe von 1.500 Euro für seine ehrenamtliche Arbeit aus.

In der Begründung des Studentenwerkspreiskomitees heißt es: „Der Schwesternhausverein e.V. verwaltet seit 1981 das Studentenwohnheim Schwesternhaus, in dem neben Studierenden der Tierärztlichen Hochschule auch Studierende der anderen hannoverschen Hochschulen leben. Der als Vermieter auftretende Verein, der sich aus aktuellen und ehemaligen BewohnerInnen zusammensetzt, bietet nicht nur 115 Studierenden ein Zuhause, sondern organisiert in der ehemaligen Kapelle kulturelle Veranstaltungen wie Autorenlesungen, Konzerte oder Live-Hörspiele. Die ehrenamtlich tätigen Vereinsmitglieder tragen darüber hinaus maßgeblich zum Gemeinschaftsgefühl bei, indem sie Aktivitäten wie Ausflüge, Grillabende und Musizieren auf die Beine stellen. Das denkmalgeschützte Gebäude wurde 1897 als Damenstift eingeweiht, 1971 zur – nur als Übergang gedachten – Nutzung durch Studierende an die TiHo gegeben und 1981 dem Schwesternhausverein als Träger überlassen. Anlässlich des doppelten Jubiläums (30 Jahre Schwesternhausverein, 40 Jahre studentisches Wohnen) wurde im vergangenen Jahr die Jubiläumsbroschüre „Das Schwesternhaus 2011 herausgegeben.““

Verleihung

Zur großen Preisverleihung und Feier wurde am 14.06.2012 in die Hauptmensa der Leibniz Univeristät eingeladen. Der Vorstand des Schwesternhausvereins durfte den symbolischen Scheck von Stefan Weil, dem Oberbürgermeister der Stadt Hannover, entgegen nehmen. Viele weitere Bewohner*innen und auch einige ehemalige Schwesternhäusler*innen waren zur Verleihung anwesend.

Wir, die Bewohner*innen des Schwesternhauses freuen uns sehr über diesen Preis und fühlen uns durch ihn in unseren ehrenamtlichen Leistungen in den letzten 40 Jahren bestärkt. Wir wollen ihn als Ansporn sehen, für mindestens weitere 40 Jahren studentisches Leben in unserem Haus in Basisdemokratie zu ermöglichen.

Kampf um den Erhalt

2024: Der Auslauf der Erbpachtvertrages

Zukunfstag 2016
Engagierte Schwestern sammeln Ideen auf dem Zukunftstag 2016

Es war Kriegsruine, Hippieheim, Wirtschaftskatastrophe, unbewohnbar – doch all das hat unser Haus tapfer überstanden. Wir haben aus unserer Geschichte gelernt, und heute strahlt das Schwesternhaus wohnlicher denn je.

120 Menschen ist es ein unvergessliches Zuhause und Herzblut geworden, gar nicht erst zu nennen all die Generationen, die vor uns da waren und uns geholfen haben, das Schwesternhaus zu dem zu machen, was es heute ist. Nicht nur können wir auf eine lange Reihe einst unstemmbar erscheinender und doch in Eigenleistung geschaffter Projekte zurückblicken, sondern auch auf einen sozialen Geist, der uns von der Gründungsidee Bödekers 1848 bis heute begleitet.

Das Schwesternhaus ist absolut einzigartig und hat es daher mehr als verdient, auch den kommenden Generationen erhalten zu bleiben. Dafür kämpfen wir.
Denn wie jede Generation von Schwesternhäusler*innenn haben auch wir ein großes Päckchen zu tragen:

2024 läuft der bestehende Erbpachtvertrag aus. Um verhandlungsfähig für eine Neuauflage zu sein, welche voraussichtlich mit höheren Zinsen und damit mit höheren Kosten einhergehen wird, arbeiten wir schon jetzt für eine verbesserte Finanzlage des Hauses.

Denn auch in Zukunft möchten wir Studierenden jeglicher Herkunft und jeden Geschlechts sozialen und bezahlbaren Wohnraum ermöglichen – und damit die Erfahrung eines Zuhauses, das uns fürs Leben prägt.

Hilf auch du mit, das Haus zu erhalten und beteilige dich an unserer Finanzierung für 2024!
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